In der ZEIT-Ausgabe vom 14. August hatte Evelyn Finger einen Kurzkommentar (Nur Print-Version verfügbar) zu den Vorkommnissen um den Bielefelder Soziologieprofessor Heinz Gess geschrieben und dabei deutlich zum Ausdruck gebracht, was sie vom Maulkorberlass hält, der ihm in Form eines Disziplinarverfahrens auferlegt wurde. Castollux berichtete in diesem Beitrag über den unerhörten Vorgang, in dem einem Wissenschaftler seitens der Rektorin untersagt wird, Forschungsergebnisse über die Tätigkeit des nazistischen Wissenschaftlers und hochrangigen ehemaligen NSDAP-Funktionärs Werner Haverbeck, der ab 1972 an der FH Bielefeld "lehren" durfte, öffentlich zu thematisieren.
Herr Prof. Dr. Gess, wie beurteilen Sie das gegen Sie eingeleitete Disziplinarverfahren?
Castollux: Wie erklären sie sich das erstaunliche Verhalten der Hochschulleitung? Wie konnte es dazu nur kommen?
Heinz Gess: Dafür gibt es meines Erachtens von der Sache her mehrere Gründe:
Das Gesetz beschränkt unter dem irreführenden Namen „Hochschulfreiheit“ die Freiheit der Hochschullehrer drastisch. Es ist insofern ein antidemokratisches Gesetz. Das Rektorat wird nun nicht mehr von den Mitgliedern der Hochschule gewählt, sondern vom Hochschulrat bestimmt. Auch der Hochschulrat ist kein gewähltes Organ, sondern von der nicht gewählten Hochschulleitung bestellt. Die Hochschullehrer sind keine Landesbeamten mehr, sondern nur noch Hochschulbeamte und damit unmittelbar und ausschließlich der demokratisch nicht legitimierten Hochschulleitung unterstellt sind. Solch ein Machtzuwachs muss jenen, die es immer schon mit der Macht hielten und denen Argumente und Kritik immer nur ein lästiges Beiwerk waren, wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. So ist es kein Wunder, dass ich z.B. nur eine Woche nach meiner Zwangsübernahme zum Hochschulbeamten, gegen die ich rechtliche Schritte einleitete, aus nichtigem Anlass mein erstes Disziplinarverfahren erhielt, das freilich von der Disziplinarkammer nicht angenommen wurde.
Im Zentrum der neuen Hochschule steht ihre Selbstvermarktung oder "Außendarstellung". Ob wahr oder falsch wird dabei zweitrangig. Wichtig ist, bei der Herrschaft gut anzukommen. Herrschaft heiß in diesem Fall: bei den Industrieführern, der Kulturindustrie, den Chefs der Verwaltungen. Unter diesen Bedingungen wird der Konformismus Trumpf. Und nun kommt da ein Hochschullehrer aus der eigenen Hochschule und macht ohne Not der Öffentlichkeit bekannt, dass an der Bielefelder Fachhochschule in den siebziger Jahren ein Nazi und bekannter Rechtsextremer gelehrt und in einem bewusst unauffällig gehaltenen Einstellungsverfahren (also keinem normalen Berufungsverfahren) angestellt worden sei und anschließend seine verdorbenen Früchte unter die Leute gebracht habe. Das muss doch die lediglich an der Außendarstellung interessierte Hochschulleitung empören, nicht wahr? Nicht der negative Sachverhalt selbst stört die FH Leitung, sondern dass er an die Öffentlichkeit gerät und kritisiert wird. Der Bote wird für die schlechte Botschaft bestraft, weil sie der Reklame schadet. Aber das ist hierzulande ja nichts Neues mehr.
Drittens: Die in Deutschland übliche Form der Erinnerungs- und Schuldabwehr
Die öffentlichen Schuldeingeständnisse deutschet Amtsinhaber etwa zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung von der Herrschaft der Nazis, die viele Deutsche immer noch für die größte Niederlage des deutschen Volkes halten, sind Makulatur. Sie sind durchweg zu Inszenierungen der Außendarstellung, des Selbstmarketings Deutschlands geworden. Viele wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre belegen, dass die Enkel und Enkelinnen aktiver Nazis ihre Großväter allesamt für unschuldig halten, selbst dann, wenn sie in der SS oder in der Gestapo waren, halten daran fest, dass die Großväter Opfer des Systems oder sogar heimliche Widerstandskämpfer waren. In der Fachhochschule wurde mit derselben Geistlosigkeit stets davon ausgegangen, dass alle Fachhochschullehrer im fraglichen Alter nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, und gerade dieser kollektive Mythos wird durch den Verweis auf Haverbeck, der zeitlebens ein Nazi geblieben ist und als moderner Nazi an der Fachhochschule praktizierte, Lügen gestraft. Das ist für die Mythengläubigen sehr ärgerlich und weckt ihre Aggression.
"Im Rahmen des unauffälligen Einstellungsverfahrens hat Herr Professor Haverbeck die üblichen Erklärungen unterschrieben, mit denen er u. a. bestätigt, dass er keiner Organisation angehört und keine Organisation fördert, deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet oder die darauf ausgeht, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu gefährden.
Auch aus den Unterlagen und seinem Lebenslauf ergaben sich keine Hinweise auf einen Sachverhalt, der einer Einstellung widerspricht.
Unter Hinweis auf § 2 Abs. 3 und § 9 Informationsfreiheitsgesetz NRW bitte ich um Verständnis, dass ich keine weiteren personenbezogenen Daten offenbaren kann und verbleibe mit freundlichen Grüßen ...."
Castollux: Das Rektorat unterstellt in seiner Einleitung des Disziplinarverfahrens nach den vorliegenden Informationen, es ginge Ihnen lediglich um die Diskreditierung von Personen in der Hochschulleitung.
Heinz Gess: Das ist falsch, weit hergeholt und eine Umkehrung des wirklichen Sachverhalts. In Wahrheit geht es dem Rektorat um mich, meine Arbeit an der kritischen Theorie und insbesondere das Kritiknetz - darum, zu diskreditieren, zu ruinieren und aus der Hochschule zu entfernen. Die Kritische Theorie wird von der Rektorin zur unwissenschaftlichen Privatsache erklärt und am liebsten von der FH verbannt, indem man ihrem Verfechter mit immer neuen Sanktionen droht. Der Täter inszeniert sich in diesem Fall gewissermaßen als Opfer, um sich das Recht zu geben, zuschlagen zu können, und das nicht das erste Mal.
Was meinen Vorspann zum Artikel von Bierl und Heni über Haverbeck angeht, so habe ich darin ausdrücklich festgestellt, dass es mir um die Kontinuität einer Praxis der Hochschulleitung als Institution geht und hervorgehoben, dass das nicht ad personam gemeint ist. Deshalb ist dieser Vorwurf völlig unverständlich. Die Kontinuität, um die es mir geht, liegt darin, dass jedenfalls im Fachbereich Sozialwesen dem konformistischen Jargon der Eigentlichkeit oder dem esoterisch- ökosystemischen Jargon, der sich konstruktiv kritisch gibt - eben so wie es Haverbeck in den siebziger Jahren tat - stets der Vorzug gegeben wird vor der kritischen Theorie der Gesellschaft. Während jene, die sich konformistischer Jargons bedienen, beinahe machen können was sie wollen, wird die kritische Theorie in jeder ihrer Variationen bekämpft - mit der erkennbaren Intention, sie aus der Hochschule zu entfernen. Darauf zielt vermutlich das neue Disziplinarverfahren gegen mich hin.
Ich hoffe, dass die Hochschulmitglieder sich diese autoritäre, konformistische Praxis nicht länger gefallen lassen, gehe aber davon aus, das sie sich lieber heraushalten, um sich nicht den Mund zu verbrennen.
Castollux: Sie sagten zuvor, es existieren von der Sache her mehrere Gründe. Soll das heißen, dass es daneben auch noch persönliche Gründe gibt?
Heinz Gess: Das kann ich nicht sicher wissen. Denn falls es sie bei der Rektorin gibt werden sie vollständig verleugnet. Ich vermute aber, dass Sie völlig Recht haben und mit Ihrer Frage ins Schwarze treffen. Denn die Begründungen für die Sanktionen - auch schon die früheren - waren und sind von der Art her weit hergeholt und fadenscheinig, sodass diese Vermutung sehr, sehr nahe liegt. Ich habe in der Vergangenheit in einem sehr persönlich gehaltenen Schreiben an das Rektorat die Vermutung auch schon geäußert und darum gebeten, eine Gesprächsform zu wählen, die es uns ermöglichte, über Kränkungen und Verletzungen miteinander zu sprechen, damit sie verheilen können. Aber der Gedanke wurde ziemlich brüsk abgewiesen.
Castollux: Herr Professor Gess, Dank für die offenen Worte und alles Gute für die Zukunft.
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