Samstag, November 10, 2007

Köter mit hündischen Gedanken?


Als Heinrich Heine 1825 in Heiligenstadt die protestantische Taufe erhielt, erhoffte sich der religiös indifferente Dr. jur. in spe damit das "Entre Billet" zur europäischen Kultur und bessere wissenschaftliche Aufstiegschancen. Um diesen "Gesinnungswechsel" quasi zu dokumentieren schrieb er das Gedicht Prinzessin Sabbat, aus dem auch die Überschrift meines Beitrages stammt. Er musste aber die Erfahrung machen, dass er von seinen Mitbürgern trotz dieser deutlichen Anpassungsgeste weiterhin als Jude angesehen wurde - mit all den Mythen, Vorurteilen und Konsequenzen, die diesem Blick auf ihn und das Judentum schlechthin eigen sind.

Nahezu 200 Jahre später, während die Professoren Walt und Mearsheimer quer durch alle Kontinente tourend ihr antiisraelisches Machwerk Die Israel Lobby promoten - was trotz des medialen Zirkus, der im Vorfeld der Veröffentlichung veranstaltet wurde, eigentlich erstaunlich ist, rechnete man angesichts des Sujets wohl mit einem Selbstläufer - sind aus den Reihen der jüdischen Intellektuellen bislang nur wenige Stimmen zu hören, die der aggressiven antiisraelischen Propaganda Zählbares entgegensetzen. Warum diese selbst auferlegte Zurückha
ltung?

Eine dieser hörbaren Stimmen gehört Ruth Wisse, Professorin für vergleichende Literaturwissenschaften und Jiddisch an der Harvard University. In ihrem Aufsatz "Sind die Juden zu mächtig? Weit gefehlt!" setzt sie ein kräftiges „Nein“ gegen das von den Gegnern Israels gebetsmühlenartig wiederholte und verbreitete Märchen, „die Juden“ hätten schon seit der Antike und in den nahezu zwei Jahrtausenden der erzwungenen Diaspora seit der Zerstörung Roms eine zu einflussreiche Rolle in den Gesellschaften eingenommen, in denen sie lebten. Es war eben nicht so. Zu keiner Zeit.

Ruth Wisse (Abbildung, Archiv Harvard University) zeigt eine stringente Entwicklung auf, wie sie prägend für die jüdischen Gemeinschaften war: Zurückdrängung der eigenen Wünsche und Vorstellungen von Einflussnahme oder gar eines eigenen Staatswesens um den Preis einer erhofften Duldung und Verschonung. Dass diese Hoffnung nur allzu oft trog, dazu immer wieder von unendlich viel Leid begleitet war und in einem entsetzlichen Blutbad gipfelte, lässt Ruth Wisse zu dem berechtigten Schluss kommen, dass es für die Juden in den USA und überall sonst auf diesem Globus eher an der Zeit ist, ihre Stimme noch viel offensiver in eine neue Debatte einzubringen als dies der bisher Fall ist, und die von den Feinden Israels nach altem Denkmuster so antisemitisch gefärbt in der Wolle geführt wird wie eh und je. Ruth Wisses Beitrag in der Washington Post ist als Aufruf an die jüdischen Intellektuellen und Politiker (und natürlich an ihre Freunde) zu verstehen, Mythen zu enttarnen und Stärke zu zeigen. Castollux hat den Aufsatz übersetzt.


Sind die amerikanischen Juden zu mächtig? Weit gefehlt!

Ruth Wisse, 4. November 2007

Heute liegt es im Trend, raunend anzudeuten, dass die Juden Amerikas so unangemessen mächtig seien. Ob es die Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt oder Ex-Präsident Jimmy Carter sind - jene, die die Juden von heute beschuldigen, übermäßigen Einfluss auszuüben, verstehen es genau falsch herum. In Wirklichkeit haben Juden zu wenig Macht und Einfluss. Sie haben auch zu wenig Selbstbewusstsein, um sich zu verteidigen.

Bedenken Sie ein grundlegendes Paradoxon: Selbst Antisemiten loben Juden dafür, außergewöhnliche große Intelligenz zu besitzen. Selbstgefällige Webseiten schätzen, dass an Juden, die etwa 0,2 Prozent der Weltbevölkerung stellen, mehr als 160 Nobelpreise verliehen wurden. Aber wenn Juden so pfiffig sind, warum entfallen dann auf 22 Staaten der Arabischen Liga ein Zehntel der globalen Landfläche, während die Israelis darum kämpfen, ein Land zu schützen, das 1/19 der Fläche Kaliforniens umfasst? Wenn die Juden so mächtig sind, warum zieht Israel zweimal so viele Investitionen in Risikokapitalanlagen an wie ganz Europa, obwohl es der einzige von 192 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ist, der des Rassismus aufgrund des Verbrechens seiner schieren Existenz beschuldigt wird? Nennt man so etwas Macht?

In der Tat gibt es eine historische Ursache, warum jüdische intellektuelle Errungenschaft mit politischer Schwäche einhergeht. Um es einfach zu sagen: Bedeutende jüdische Leistungen auf anderen Gebieten gingen zu Lasten politischer Macht, und die eigentümliche Beziehung zwischen Juden und Machtausübung hat sie zur Lieblingsbeute der Geschichte gemacht. Jahrhunderte des Überlebens in den Ländern anderer Völker hat Juden daran gehindert, volle Anerkennung zu erlangen und an die Schaltstellen der Regierung zu kommen. Einzelne Juden dürften sehr gut gelebt haben, aber das jüdische Volk als Ganzes wurde lediglich geduldet, in Sorge, diejenigen gegen sich aufzubringen, auf deren Toleranz sie angewiesen waren.

Diese Fragen sind für mich sehr wichtig. Ich wurde oft gefragt, wie ich, eine Dozentin für jiddische Literatur, dazu gekommen bin, über Politik zu schreiben. Aber erinnern Sie sich bitte daran, dass die jiddische Sprache, die von europäischen Juden über einen Zeitraum von annähernd tausend Jahren entwickelt worden war, praktisch zusammen mit ihnen in nur sechs Jahren, von 1939-45, ausgelöscht wurde. So konzentrierte ich mich beim Studium der jiddischen Literatur fast definitionsgemäß auf die politischen Unzulänglichkeiten der Juden.

Nachdem Jerusalem im Jahr 70 von Rom vernichtet wurde - so schrecklich, dass Berichten des Historikers Flavius Josephus zufolge „niemand, der den Fleck aufsucht, glaubt, dass er einmal bewohnt war“ - sind wenige Juden dort geblieben und die große Mehrheit ließ sich in fremden Ländern nieder. Über mehr als 18 Jahrhunderte haben Juden als eine Nation ohne die drei wichtigsten Klammern nationaler Einheit überlebt: Land, Zentralregierung und unabhängige Mittel zur Selbstverteidigung.

Stattdessen haben Juden Anpassungsstrategien gewählt. Sie versorgten ihre nichtjüdischen Nachbarn mit Waren und Dienstleistungen im Tausch gegen die Erlaubnis, im Land bleiben zu dürfen. So wurden sie Geldverleiher, Bankiers, Münzer, Handwerker, Hebammen - übten Berufe aus, die ihnen die Nichtjuden überlassen wollten und ihnen erlaubten, ihren Kalender, Bräuche und religiöse Riten zu behalten. Aber sie hatten keine Möglichkeit, ihre Errungenschaften zu schützen.

Anders als ihre christlichen und muslimischen Herren hatten Juden gute Gründe, Ärger mit jenen zu vermeiden, von denen sie Akzeptanz erhofften. Der deutsche Dichter Heinrich Heine, der die Konvertierung zum Christentum als seine „Eintrittskarte“ zur europäischer Kultur bezeichnet hatte, verglich das Judentum mit einem Prinz, der durch „schwarze Magie“ in einen Hund verwandelt wurde:

Einen Prinzen solchen Schicksals
singt mein Lied.
Er ist geheißen Israel.
Ihn hat verwandele Hexenspruch in einen Hund.

Köter mit hündischen Gedanken,
Kötert er die ganze Woche
Durch des Lebens Kot und Kehricht,
Gassenbuben zum Gespötte

Nur an den Freitagabenden, wenn sich der Sabbat in seinem eigenen Haus ankündigte, nähme der Köter wieder seine menschliche Gestalt an. Heine erkannte, dass die Demütigung der Juden durch ihre moralische Klarheit ausgeglichen wurde und ihre moralische Klarheit durch ihre akute politische Verletzbarkeit.

Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 - und kurz nach dem Blutbad des Holocaust - nahm man an, dass sich all dies ändern würde. Aber die neu formierte arabische Liga wandte sich gegen Israel und machte dies zum einzigen gemeinsamen Ziel einer sonst durch Zank geprägten Mitgliedschaft. Die neu geschaffene UNO, Tribüne des Auftretens der post-kolonialen Nationen, schützte Israel nicht vor dem Angriff, und im Laufe der Zeit wurde diese globale Institution Teil des Krieges gegen das jüdische Staatswesen.

Natürlich hat Israel jetzt eine Armee, und sogar eine großartige. Aber die IDF hat an den existenziellen Voraussetzungen der Juden als Minorität nichts ändern können.

Israel war nun eine Minderheit unter den Nationen, im Kampf mit den arabischen Staaten, die versuchten, es zu dominieren oder zu zerstören. Israel lebte weiterhin mit der Strategie des Entgegenkommens, versuchte, seine Nachbarn mit nützlichen Dienstleistungen und Gütern zu versorgen, wie zum Beispiel medizinischem, landwirtschaftlichem und technologischem Know-how. In den 1990er Jahren lobten Schwärmer wie Shimon Peres, heute Präsident Israels, einen neuen" Nahen Osten der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit aus. Als Peres und Israels verstorbener Ministerpräsident Yitzhak Rabin den Palästinenserführer Yasser Arafat als Oberhaupt eines palästinensischen Proto-Staates installierten, begannen sie mit einem anderen dem Untergang geweihten jüdischen politischen Experiment - und machten Israel, so weit ich das verstehe, zum ersten Land der Welt, das jemals seinen Feind bewaffnet hat, in der Hoffnung, dadurch Sicherheit zu erlangen.

Und was ist mit den amerikanischen Juden? Walt und Mearsheimer behaupten, dass eine jüdische Verschwörung die Nahost-Politik der USA diktiert, die israelischen Interessen dabei unterstützt und die der USA verletzt. Haben die amerikanischen Juden nun wirklich begonnen, sich effektiv zu mobilisieren und Israel zu schützen oder übertreiben die Leute wieder, was jüdischen Einfluss und die von ihm scheinbar ausgehende Gefahr betrifft?

Denken Sie an die altehrwürdigen Universitäten: Wo sonst könnte man erwarten, dass von Juden intellektuelle Feuerkraft zu sehen ist, die jüdische Interessen verteidigt? An der Columbia University nutzte der verstorbene Edward Said seine Autorität als Lehrkraft für vergleichende Literaturwissenschaft, um den Terror der Palästinenser schönzureden und arabische Gewalt gegen Israel stillschweigend zu dulden, darunter auch mit einem persönlichen Beispiel (Im Jahr 2000 ertappte ihn der Fotograf einer französischen Nachrichtenagentur, wie er im Südlibanon Steine gegen eine israelische Stellung schleuderte). Viele seiner jüdischen Kollegen sahen damals weg oder unterzeichneten seine Petitionen.

An anderen Hochschulen führen jüdische Professoren selbst die antiisraelische Front an. Und in der Tat sind Walt und Mearsheimer davon ausgegangen, dass jüdische Organisationen ihre Vorträge fördern und beschwerten sich über „Zensur“, wenn das Sponsoring ausfiel. Offenkundig bereitet nichts mehr Spaß - oder ist nichts einträglicher - als Juden zu ködern.

Dies ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Amerikanische Juden haben aus der Erfahrung gelernt, und die Vereinigten Staaten haben ihren Reifeprozess begünstigt. Während der 1970er- und 1980er Jahre halfen die Juden, die vom biblischen Imperativ „die Gefangenen erretten“ inspiriert wurden, ihren unter sowjetischer Herrschaft lebenden und drangsalierten Glaubensgeschwistern, die Freiheit zu erlangen. Die jüdische Gemeinschaft in der Sowjetunion konnte teilweise an Boden gewinnen, weil ihre Ziele mit der Strategie Washingtons während des Kalten Krieges übereinstimmten, den Zusammenbruch des Kommunismus von innen herbeizuführen.

Ähnlich können die amerikanischen Juden, wie im Antiterrorkampf seit 9/11 aus anderen Übereinstimmungen der Interessen Zuversicht beziehen, diesmal, was die israelische und amerikanische Selbstverteidigung betrifft. Der arabische Krieg gegen Israel und der Krieg des radikalen Islam gegen die USA sind nahezu gleich ausgerichtet, was bedeutet, dass der Widerstand gegen das Eine den Widerstand gegen das Andere unterstützt. „Wir sind jetzt alle Juden“, sagte der ehemalige CIA-Direktor R. James Woolsey Jr. nach den Anschlägen vom September 2001. „Wir sollten uns der historischen Tatsache bewusst werden, dass der Rest von uns das nächste Ziel sein wird, wenn der Antisemitismus seinen Kopf erhebt, es sei denn, wir sind bereit, mit dem Fuß im Genick zu leben“. Seit den Tagen des Pharao waren Juden der Leitstern für religiöse und politische Freiheit: Die aggressiven Gegner der Juden bekämpfen diese Freiheiten und werden von ihren Verteidigern gefördert. Die Angreifer brachten Adolf Hitler und Josef Stalin hervor, dazu extrem nationalistische Parteien von Frankreich bis Polen, arabische Autokraten, die sich an ihre Macht klammern und radikale Muslime, die an die Macht kommen wollen. Diese Faustregel hat weniger mit jüdischen Aktionen zu tun als mit jenen, die in antijüdischer Politik begründet sind. Als kleines Volk, dessen Feinde darauf aus sind, ihre Darstellung gewaltig aufzublasen, geben die Juden einen praktischen Sündenbock für Diktatoren. In seinen August-Meetings, so das Hudson Institute, richtete der neu „aufgemotzte“. UN-Menschenrechtsrat drei Viertel seiner Anklagen gegen Israel - und ganze zwei Prozent gegen das brutale Regime in Birma.

Ich habe Verständnis dafür, wenn einige Juden und Israelis versuchen, diesem Angriff durch Assimilation oder Selbstverleugnung zu entkommen, oder sich sogar auf die Seiten ihrer Gegner schlagen. Es ist verführerisch, darauf zu hoffen, dass es uns erlaubt ist, in Frieden zu leben, wenn wir uns an unsere Feinde anpassen. Aber die Strategie der Anpassung, die historisch gesehen die Juden zu einer nicht verfehlbaren Zielscheibe machte, ist der am wenigsten geeignete Kurs, die andauernden Aggressionen gegen sie zu beenden. In der Tat wird antijüdische Politik nur aufhören, wenn jene, die sie praktizieren, demokratische Werte wie religiösen Pluralismus und politische Freiheit anerkennen - oder einen sehr hohen Preis dafür bezahlen, wenn sie sich darüber hinwegsetzen.

Ruth Wisse ist Professorin für vergleichende Literatur und Jiddisch an der Harvard University. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Juden und Macht.

Hat tip: HonestReporting, Lizas Welt, Heplev

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